Gut versteckt im medialen Osterloch hat die EU-Behörde European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) am 5. April eine Empfehlung an die EU-Regierungen veröffentlicht, die die PR-Abteilungen von Biontech und Pfizer nicht besser hätten formulieren können. Die Regierungen sollen für den Herbst eine Covid-19-Boosterkampagne vorbereiten.
Bisher gibt es solche Pläne nur in zwei EU-Ländern, Frankreich und Schweden, für Menschen über 65 und Risikogruppen. Doch selbst das ist dem ECDC zu zurückhaltend. Es will Booster-Kampagnen für alle ab 60 und Risikogruppen.
Die Pressemitteilung dazu ist überschrieben mit (übersetzt):
„Impfkampagnen im Herbst, die sich auf ältere Menschen und andere Risikogruppen konzentrieren, sind der Schlüssel zur Verringerung der Auswirkungen von COVID-19.“
Das geschieht zu einer Zeit, in der die Belastung des Gesundheitssystems mit Covid kaum noch eine Rolle spielt, Todesfälle sehr selten geworden sind und die öffentliche Debatte und Wahrnehmung vor allem von den stetig steigenden Schätzungen hinsichtlich des Vorkommens schwerer Impfnebenwirkungen dominiert ist.
Fast zeitgleich mit der Empfehlung des ECDC haben die zuständigen Schweizer Behörden alle Impfempfehlungen außer für schwerst Immungeschwächte zurückgezogen. In der Schweiz dürfen nur noch Mitglieder von Risikogruppen über 16 Jahre nach Einzelfallabwägung und in der Verantwortung des impfenden Mediziners geimpft werden.
Oberste Verantwortliche für das Machwerk des ECDC ist Direktorin Dr. Andrea Ammon, eine deutsche Medizinfunktionärin, die 2017 vom Robert-Koch-Institut kam. Im Verwaltungsrat der ECDC sitzt von deutscher Seite Ute Teichert, Leiterin der Generaldirektion Gesundheitsschutz im Bundesgesundheitsministerium. Im Beirat des ECDC sitzt RKI-Abteilungsleiter Osamah Hamouda.
Alles ist relativ
Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit dem Risiko-Nutzenverhältnis einer Impfung beziehungsweise Impfkampagne findet man in dem ECDC-Bericht nicht. Schädliche Nebenwirkungen der Impfung werden nur erwähnt als (irregeleiteter) Grund für Menschen, keine weitere Impfung zu wollen.
Wäre ich Verantwortlicher in einer Antikorruptionsbehörde, würde mich das inspirieren, genau hinzuschauen. Epidemiologen können nicht vergessen, sich mit dem Risiko-Nutzenverhältnis einer Impfung auseinanderzusetzen. Es steht ihnen zwar frei, sich auf eine Seite der Abwägung zu konzentrieren. Aber dann können sie auf dieser Basis keine Handlungsempfehlung abgeben.
Außer dem Weglassen der Nachteile wendet das ECDC noch eine zweite Methode an, um zu der sicher nur zufällig für die Impfstoffhersteller umsatzmaximierenden Empfehlung einer weiteren Impfkampagne zu kommen. Sie drücken die Vorteile, die sie herausarbeiten, nur in jeweils zielführender relativer Form aus. Im Zentrum steht eine „mathematische Modellierung“, derzufolge eine Booster-Kampagne im Herbst – unter der unwahrscheinlichen Annahme, dass sie gut angenommen würde – bis einschließlich Februar 2024 zwischen 21 und 32% aller Covid-bedingten Hospitalisierungen vermeiden könnte. Es gibt kein Wort dazu, ob das in absoluten Zahlen viel oder wenig ist.
Zu den aktuellen Hospitalisierungsraten nach Alter sagt der Bericht auch lieber nichts, außer der relativen Angabe, dass diese für die Älteren „immer noch“ höher seien als für die Jüngeren. Aus einer Grafik kann man aber ablesen, dass die Rate auch für die über 60-Jährigen seit Sommer 2022 sehr viel niedriger ist als in den beiden Vorjahren und derzeit weniger als 10 je 100.000 Menschen dieser Altersgruppe betrifft. Das Hospitalisierungsrisiko liegt also bei weniger als einem Zehntel Promille. Dazu steht in der Fußnote noch, dass wahrscheinlich die Hälfte der gezeigten Hospitalisierten mit Covid-Bezug nur mit, nicht wegen Covid im Krankenhaus ist.
Bei den Todesfällen, bei denen wir in dieser Altersgruppe bei nahe Null je 100.000 angelangt sind, fehlt dieser Hinweis, obwohl er genauso angezeigt sein dürfte. Auf Intensivstationen liegt weniger als einer von 100.000 über 60-Jährigen mit oder wegen Covid. Das ist ein Risiko von weniger als einem Hundertstel Promille. Abbildung 18 im Wochenbericht des RKI vom 6. April zeigt anschaulich, dass seit Frühjahr 2022 die Belegung der Intensivbetten mit Patienten mit Covid-Bezug nur nur noch einen Bruchteil früherer Spitzen erreicht hat.
Auch zur Rate der Hospitalisierungen von Covid-Infizierten macht der Bericht im Text und tabellarisch nur Angaben zu den relativen Werten, nicht zu den (sehr niedrigen) absoluten. Leser erfahren nur, wie hoch das Risiko von Menschen mit länger zurückliegendem Booster relativ zu Menschen mit frischem Booster ist, aber nicht, wie niedrig das Risiko schon geworden ist, das man mit einem neuen Booster vielleicht ein bisschen senken könnte.
Damit bei dieser minimalen Hospitalisierungs- und Sterberate eine Impfkampagne mit einem unbestrittenermaßen schwach und nur relativ kurzfristig wirksamen Impfstoff erwartbar mehr bringt, als sie in Form von Impfnebenwirkungen und Kosten schadet, muss man in die Modellrechnung eine schwere Infektionswelle mit so vielen Hospitalisierungen hineintun, wie wir sie seit dem Winter 2021/2022 nicht einmal mehr näherungsweise hatten.
Doch eine solche Information sucht man in dem Bericht vergeblich. Weil man sich mit Nebenwirkungen nicht beschäftigt hat, hielt man es für nicht nötig. Aber wie man es verantworten kann, auf dieser Basis die Regierungen zu einer Impfkampagne zu drängen, ist völlig schleierhaft.
Klaffende Wissenslücke
Die Autoren des Berichts geben zu, dass man nicht weiß, ob die auf inzwischen nicht mehr umlaufende Omikron-Varianten angepassten bivalenten Impfstoffe bei den aktuellen und künftigen Varianten noch (gut) wirken. Die möglichen Auswirkungen der sogenannten Immunprägung auf den Schutz gegen COVID-19 seien unklar. Dabei geht es um die Hypothese, dass die vorherige Prägung einer früheren Variante den späteren Immunschutz gegen neue Varianten reduziert. Das würde den Nutzen variantenspezifischer Impfstoffe beeinträchtigen.
Im Bericht heißt es dazu resignierend-resümierend (kursive Hervorhebung von mir):
„Die oben beschriebenen Erkenntnisse über monovalente und bivalente Auffrischungsimpfungen deuten darauf hin, dass die bivalenten Auffrischungsimpfungen einen größeren Schutz bieten, wenn sie auf den vorherrschenden zirkulierenden Stamm abzielen. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie sich dies auf den Schutz vor neuen Varianten auswirken wird.“
Man braucht sich nur das Absinken der angegebenen Impfstoffeffektivitäten im Verlauf der Corona-Zeit von angeblich nahe 100% auf weit weniger als 50% und zum Teil in den negativen Bereich vor Augen zu halten, um hier eher skeptisch zu sein.
Boostern als Dauerprogramm
Der Bericht richtet sich nicht an die breite Öffentlichkeit, sondern an die Nationalen Technischen Impfberatungsgruppen (NITAGs) und die Gesundheitsministerien und -behörden. Auf der letzten Seite, bei den Forschungsprioritäten, lässt er etwas durchblicken, was der Öffentlichkeit gegenüber immer noch als krude Verschwörungserzählung abgetan wird, dass nämlich ein Boostern auf Jahre hinaus geplant ist. Anders kann ich mir folgende Forschungspriorität jedenfalls nicht erklären:
„Bewertung der Notwendigkeit, die Stammzusammensetzung von COVID-19-Impfstoffen auf jährlicher Basis in ähnlicher Weise wie bei der Grippe zu harmonisieren und Kriterien für den Entscheidungsprozess zu definieren. Auswahl der Stämme und Optionen für monovalente bzw. multivalente Impfstoffe sind von der EMA und den internationalen Regulierungsbehörden weiter zu erörtern.“
Man muss schon viel Bereitschaft mitbringen, den Autoren dieser Impfprogrammempfehlung, die unter der alleinigen Aufsicht von Regierungsvertretern handeln, unschuldige Irrtümer zu unterstellen. Dazu ist die Argumentation hinsichtlich der Entscheidung, was weggelassen wird, und welche Vergleiche präsentiert werden, viel zu eindeutig auf ein angestrebtes Ergebnis hin gerichtet.
Für mich sieht das sehr deutlich danach aus, dass die Regierungen großen Geschmack am Corona- und Impfregiment gefunden haben und die darin entwickelten Herrschafts-Instrumente, bis hin zur Möglichkeit der jederzeitigen Angstproduktion, verstetigen wollen.